17
Sep
2007

Das Versprechen

Der Aufstieg war mühsam und beschwerlich. Für beide. Für ihn, den inzwischen die Jahre zu einem alten Mann gemacht hatten, genauso wie für sie, deren zweite Hälfte des Lebens bereits angefangen hatte.

Beide hatten sich auf diesen Weg gemacht, weil der Zeitpunkt gekommen war, ihr einziges Versprechen, welches sie ihm jemals gegeben hatte, einzulösen.

Während sie zum Krater des Vesuvs hinaufsteigen, erinnern sie sich der gemeinsamen sporadischen Momente in den Jahren, in denen Raum und Zeit für seine 4te Dimension existierten. Eine Dimension, in der es nur ihn und sie gab. Sie, nach der er so lange gesucht hatte. In seinen Träumen, auf den Straßen unzähliger Städte in vielen Ländern. In den Hotelbars, die überall auf der Welt, wohin ihn sein Beruf führte, sein abendliches Zuhause waren. Bis er sie dann in einer der virtuellen Welten des Blauen Nichts endlich entdeckte. Zu einem Zeitpunkt, an dem er schon kaum noch zu hoffen wagte, jemals zu finden.

Irgendwann gewährt sie ihm die Gunst eines nächtlichen Telefonates und er weiß sofort, dass er endlich angekommen ist, als er ihr „ja bitte …“ zum ersten Mal hört. Ein langes Telefonat. Das irgendwann am sehr frühen Morgen von ihr mit dem Wunsch beendet wird, er möge sie in 4 Stunden telefonisch wecken, ihr dann am Telefon sein Lieblingslied vorsingen und nach Beendigung des Liedes den Telefonhörer auflegen. Und er ruft an und singt zum ersten und einzigen Mal einer Frau sein Lieblingslied vor: „Michelle, ma belle, these are words that go together well, my Michelle Michelle, ma belle, sont les mots qui vont très bien... “ und legt dann den Telefonhörer auf. Jahre später wird er ihr eine Spieluhr schenken, die dieses Lied spielt. Aber das wissen beide zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Momentan durchwartet er die Nacht und singt immer wieder dieses Lied vor sich hin, den Blick zu Uhr – um nicht den richtigen Zeitpunkt für den Anruf zu verpassen. Keinen Gedanken daran verschwendend, wie er selber den anstehenden harten Arbeitstag durchstehen wird …

Nach diesem Weckanruf verschwindet er. Taucht einfach ab. In die drei Dimensionen, die sein geregeltes Leben bisher ausgemacht haben – Familie, Arbeit, gesellschaftliche Verpflichtungen. Versucht zu vergessen, wie groß plötzlich die Sehnsucht nach mehr als nur einem Telefonat in der Nacht ist. Versucht die Gedanken zu verdrängen, die ungefragt diese niederträchtigen „Was wäre wenn man einfach …“-Gedankenspiele immer wieder peitschend durch seinen Kopf jagen.

Ein Jahr später wird er kapitulieren. Vor sich und seiner Sehnsucht nach ihr. Er wird viele Anläufe nehmen, um ihre Telefonnummer, die er immer noch im Kopf hat, zu wählen und dann doch immer wieder diese Anläufe abbrechen. Bis er es irgendwann schaffen wird, die Nummer komplett zu wählen. Und dann wird wieder ihre Stimme zu hören sein und das für sie so typische „ja bitte …“.

Das Weihnachtsfest in dem Jahr seiner Kapitulation war ein ganz besonders. Für beide. Zur weihnachtlichen Mitternachtsmesse sang er mit seiner Familie die Lieder in der Kirche, die an diesem Abend an diesem Ort gesungen werden und es liefen ihm dabei die Tränen über die Wangen. Tränen ob der Jahre, in denen er sich vor sich selber verleugnete und ein so genanntes bürgerliches Leben lebte. Tränen ob der Jahre, die mit erfolglosem Suchen nutzlos verrannten. Tränen ob des Wissens, endlich dann doch angekommen zu sein und mit ihr die ersten realen gemeinsamen Stunden verbracht zu haben. Tränen ob der Angst, dass diese nun real existierende 4te Dimension die anderen Dimensionen seines Lebens zerstören könnte, wenn sie nicht behutsam und verantwortlich mit den Schlüsseln umging, die er ihr übereignet hatte.

Jetzt, auf dem Weg zum Krater des Vesuvs, weiß er, dass sie behutsam und verantwortlich mit diesen Schlüsseln umging. Selbst in den Zeiten, in denen er wieder einmal versuchte, diese seine 4te Dimension zu vergessen. Bis zur nächsten Kapitulation vor seiner Sehnsucht und sich selber.

Auch sie wird dieses Weihnachten nicht vergessen. Dieses erste Treffen und die Zeit davor, in der es ihm gelang, mit Weihnachtsrätseln, die die Weihnachtsgeschenke für sie umschrieben, das Kind aus ihr hervorzulocken. Nie wird sie vergessen, wie sehr das Erraten dieser Rätsel sie und ihre Freundinnen über Wochen immer wieder beschäftigte.

Zum Abschluss dieses gemeinsamen vorweihnachtlichen Abends wird es die einzig wirklich intime Berührung zwischen beiden geben. Er wird spontan einer Gefühlsregung nachgeben und ganz zart und kurz mit einem Finger über ihre rechte Wange streicheln. Eher schon ein Hauch von einer Berührung. Und es wird sie überraschen und irritieren. So nah wie in diesem Moment, werden sie sich in den kommenden Jahren nie wieder sein und er wird sich in ihren Augen verlieren.

Die Zeit vergeht. Wann immer es möglich ist, und es ist selten mehr als 3-4x im Jahr möglich, fährt er für einen Abend zu ihr. Um für wenige Stunden in seine 4te Dimension einzutauchen. Irgendwann verspricht sie ihm, seinen Wunsch zu erfüllen und ihn zum Krater des Vesuvs zu begleiten.


Inzwischen haben sie den Krater des Vesuvs erreicht und er steht mit dem Rücken zum Krater.

Ihr fragender Blick, ob er wirklich das Versprechen erfüllt haben will. Zur Bestätigung streichelt er ihr noch einmal ganz zart und kurz über ihre rechte Wange, fängt eine Träne mit seiner Fingerspitze auf und verstreicht diese auf seinen Lippen.

Sie zieht seinen Kopf zu sich herunter und küsst ihn dieses einzige Mal auf den Mund. Und stößt ihn in dem Moment, in dem sich ihre Lippen wieder trennen, von sich und in den Krater hinab.

Ihr Gesicht wird immer kleiner. Sie wird immer kleiner. Und während er rückwärts in die Tiefe fällt, zieht an ihm das Leben vorbei, das er mit ihr in seiner Gedankenwelt, von der selbst sie nichts wusste, gelebt hatte. Es war ein sehr glückliches und erfülltes gemeinsames Leben in dieser 5ten Dimension, das nun sein Ende im Krater des Vesuvs findet. So wie er es sich von ihr gewünscht hatte.

…und sie, sie hat ihr einziges Versprechen ihm gegenüber erfüllt.


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